/Außerirdische, Andersartige, Fremde – Beginn einer Erzählung

I. Der Sprung

Wer Hofolders Untersuchungen zum Wesen der Außerirdischen, Andersartigen, Fremden beziehungsweise des Außerirdischen, Andersartigen, Fremden studiert und über dieses ebenso langwierige wie ermüdende Studium nicht den Verstand verliert, immerhin handelt es sich bei Hofolders beachtenswertem Opus um 28 schwere Folianten mit zusammen mehreren tausend eng beschriebenen Seiten, gehört offenkundig zu den Menschen, die sich durch ein starkes und durch nichts, aber auch gar nichts zu erschütterndes Naturell auszeichnen.

Hofolder selbst ist ja, wie hinlänglich bekannt sein dürfte, durch seine Untersuchungen, Forschungen und Analysen wahnsinnig geworden und hat sich, zwei Jahre ist das jetzt schon wieder her, in die damals stark Hochwasser führende Drau gestürzt, und zwar unweit von Spital, wo Hofolder, der eigentlich in Wien lebte und arbeitete, ein Landhaus besaß, in das er sich von Zeit zu Zeit zurückzog, um, wie er sagte, „inneren Frieden“ wiederzufinden, welcher durch seine intensiven Studien nicht selten (und in fraglichem Zeitraum immer häufiger) aus dem Gleichgewicht gekommen war.

Der Vorfall, Hofolders Selbstmord, war seinerzeit vom Dorfschulmeister Landstetter beobachtet worden, der aber selbst wegen eines akuten Gichtanfalles nicht eingreifen konnte und Hofolder infolgedessen auch nicht hat retten können, was ja ohnehin sinnlos gewesen wäre, denn Hofolder war zu diesem Zeitpunkt schon hoffnungslos verloren gewesen, wie der psychiatrische Sachverständige Dr. Siegbert Doberstein aus Salzburg später zu Protokoll gegeben hatte.

Zwar versuchten zwei Landarbeiter, durch die verzweifelten Hilferufe Landstetters alarmiert, den ganz offensichtlich in selbsttöterischer Absicht auf der achtundsiebzig Meter hohen, vom Architekten Goldner im Jahre 1917 konstruierten so genannten Grabnerbrücke unsicher schwankenden Hofolder noch zu erreichen. Vergebens. Ohne einen Laut von sich zu geben, war Hofolder hinabgesprungen und von den Fluten der Drau erbarmungslos mitgerissen worden.

Ein Paar braune, in Italien gefertigte Lederhalbschuhe mit schwarzen Schnürsenkeln waren einsam am Brückengeländer zurückgeblieben. Und die beiden Landarbeiter, der eine, Dvorik, der damals noch auf dem Gmeinerhof in Diensten stand, inzwischen aber geheiratet hat und von hier fortgezogen ist, und der andere, Stanjek, Angestellter der Petrovschen Ländereien, berichteten später den vom Dorfschulmeister Landstetter herbeigerufenen Gendarmen von Holfolders Hut, der noch eine ganze Weile auf der Wasseroberfläche getrieben  hatte und schließlich hinter der großen Trauerweide, dort wo die Drau eine starke Biegung nach rechts nimmt, außer Sicht geraten und kurze Zeit später vermutlich untergegangen war.

Die sofort aufgenommene Suche nach dem Leichnam Hofolders (beziehungsweise nach dem möglicherweise noch lebenden Hofolder) verlief ohne Erfolg, obwohl sie erst in den späten Nachtstunden auf Befehl der Spitaler Einsatzleitung abgebrochen worden war und obwohl sich an ihr nicht nur örtliche Suchmannschaften beteiligten, sondern Hilfskräfte aus beinahe allen umliegenden Dörfern, Ortschaften, Gemeinden und Weilern, etwas aus Schönwalde, Häusern, Stöckweg, Garras, Petersfelde, Bosau und Schmand, von woher beispielsweise die Freiwillige Feuerwehr mit 24 Mann samt schweren Tauchgerät entsandt worden war.

Sowohl die Frage nach dem Motiv (sollte es keines gegeben haben?) für Hofolders Verzweiflungstat (sollte es etwas anderes gewesen sein?), als auch die Frage, warum die Leiche des von den Bewohnern von Spital mit ein wenig Argwohn betrachteten, in Fachkreisen aber über alle Maßen geschätzten Futurologen nicht gefunden werden konnte, gibt der örtlichen Gendarmerie und anderen mit Hofolders Leben, Werk und Tod befassten Personen, so also auch mir, nach wie vor Rätsel auf.

Warum war sich Doberstein über den vermeintlichen Geisteszustand Hofolders so sicher? Doberstein, seinerzeit von der Spitaler Gendarmerie in seiner Funktion als Sachverständiger in Fragen der Selbsttötung hinzugezogen, hatte, wie erwähnt, zu Protokoll gegeben, dass ein Selbstmörder, und sei es eine derart hochgestellte, intelligente Forscherpersönlichkeit wie Hofolder ganz generell geistesgestört gewesen sein muss, andernfalls es ja nicht zur Selbsttötung gekommen wäre. Mit diesen Ausführungen hatte Doberstein genau jene Ansichten wiederholt, mit denen er auf wissenschaftlichen Kongressen, in wissenschaftlichen Abhandlungen und bei allen möglichen anderen Gelegenheiten stets zu reüssieren pflegte.

Warum führte die Drau gerade zum fraglichen Zeitpunkt ein derart ungewöhnlich starkes Hochwasser? Rollner, Archivar in Spital und deshalb mit allen die Drau betreffenden Fragen, Vorkommnissen und Problemen vertraut wie kaum jemand sonst, bestätigte, dass der Wasserstand  der Drau in keinem Jahr zuvor ausgerechnet im Juni eine derartige Höhe je erreicht hat. Hochwasser würde die Drau, so Rollner, allenfalls in Zeiten der Schneeschmelze führen, also im Februar, März und April, gelegentlich noch im Mai, wovon man sich sehr schnell durch einen Blick in die Wasserstandsprotokolle der Gemeinde Spital würde überzeugen können.

Sollte sich die Legende vom „Metaphysischen Katarakt“ nun doch bewahrheiten? Vor vielen Jahren hatte der Abt von Schmand von einem seltsamen Erlebnis berichtet, das mit einer ungewöhnlich starken Strömung im unteren Verlauf der Drau zusammenhing: Der Abt hatte beobachtet, wie ein in den Fluß gestürztes Pferd, ein mächtiger Schimmel, von einem plötzlich auftauchenden Strudel in die Tiefe gerissen wurde- Kurz danach war ein schweres Gewitter niedergegangen und die Drau hatte an der Stelle, wo das Tier untergegangen war, für einige Minuten bläulich aufgeleuchtet. (Der Abt verstarb übrigens wenige Wochen später nach einem schweren Fieberanfall.)

Konnte Hofolder diesem Katarakt, so es ihn tatsächlich (und nicht nur in der Phantasie des Abtes von Schmand) gibt, zum Opfer gefallen sein? Und welche Erklärungen könnte es für die zahlreichen toten Fische geben, die am frühen Morgen nach Hofolders Freitod am südlichen Drau-Ufer von einer Gruppe junger Diakonissinnen entdeckt worden waren?

Welche Bedeutung hatte das seltsame gelbliche Licht, das fast gleichzeitig mit Hofolders Sprung von der Grabnerbrücke über dem Steinfelder Wald erschienen war, dort in unverminderter Stärke, so die übereinstimmenden Aussagen von Landstetter, Dvorik und Stanjek, gut eine halbe Stunde lang leuchtete, bis es schließlich plötzlich, etwa gegen 20 Uhr, verlosch und nicht wieder auftauchte?

Warum hatte Hofolder noch am Abend vor seinem Selbstmord in bester Stimmung, jedenfalls alles andere als niedergeschlagen wirkend, das „Einhorn“ besucht und dort zusammen mit Dr. Ladislaus Federkö, dem berühmten Semiotiker aus Budapest, sowie dem österreichischen Logiker Prof. Bronnen, mehrere Glas Bier zu sich genommen und angeregt über grundsätzliche Fragen des Raum-Zeit-Kontinuums diskutiert?

Warum hatte Hofolder, der für seine penible, geradezu krankhafte Korrektheit bekannt (wenn nicht gefürchtet) war, keinen Abschiedsbrief hinterlassen? Nicht einmal eine kurze Nachricht auf einem Notizzettel irgendwo auf seinem Schreibtisch, keinerlei testamentarische Verfügung bei einem Notar oder Anwalt, kein Vermerk in seinem Tagebuch, nichts. Weder hier, im Spitaler Landhaus, noch in seiner Wohnung in Wien, wie ich später feststellen sollte.

Warum hatte sich Hofolder vor dem Sprung von der Grabnerbrücke seiner, wie man heute weiß, einst während einer Dienstreise in Bologna erworbenen Schuhe entledigt?

Überhaupt war der Tag, an dem Hofolder seinem Leben ein Ende setzte, geprägt von einer ganzen Reihe seltsamer Vorfälle, die man ohne Zweifel mit der Hofolderschen Tat in Zusammenhang bringen könnte. (Was man seinerzeit ja auch getan hat, allerdings, wie man sich denken kann, ohne jeglichen Erfolg.)

So waren an jenem Tag in Spital und anderen Ortschaften in der näheren Umgebung gegen Mittag plötzlich alle öffentlichen Uhren stehengeblieben.

Bauern hatten von einer ungewöhnlichen Nervosität ihrer Tiere berichtet. Schafe hätten „verrückt gespielt“, Pferde wären „durchgedreht“, Kühe hätten einen „stierigen Blick“ bekommen, Hühner und Gänse hätten „ihre Köpfe in den Sand gesteckt“ und anschließend für drei Tage „das Eierlegen verweigert“.

Eine Landfrau aus Pötzstetten war in die Nervenklinik von Spital eingeliefert worden, weil sie nackt auf dem Bürgermeisteramt erschienen war und „Beamte verwünscht“ hatte, wie es im Aufnahmeprotokoll der Klinik hieß.

Die jüngste Tochter des Spitaler Apothekers Seyfried, Anna, hatte eine Kind ohne Arme zur Welt gebracht, das kurz nach der Geburt starb.

Der Pfarrer von Garras berichtete von einem „seltsamen Reiter ohne Gesicht“, der ihm bei seinem morgendlichen Spaziergang über die Petrovschen Wiesen entgegengekommen war.

Eine Gemeindebedienstete aus Spital war am Ufer der Drau, bei der Kellerschen Heumühle, mit gelben Flecken im Gesicht, schluchzend und offenkundig verwirrt, aufgefunden und sofort zu einem Arzt gebracht worden.

In der Kirche von Stöckweg war das Tabernakel ohne jeden ersichtlichen äußeren Einfluss zu Boden gefallen und zerbrochen.

In St. Ottilien bei Petersfelde hatte sich eine 400 Jahre alte Bibel offenbar selbst entzündet, und zwar in der verschlossenen gläsernen Vitrine im Arbeitszimmer des Vikars, in der sie seit jeher, gut geschützt vor dem Zugriff Unbefugter, aufbewahrt wird.

Und der Landarbeiter Josef K. hatte von zwei, wie er sich ausdrückte, „obskuren Gestalten“ berichtet, die am sogenannten „Landspitz“ bei Bosau „mit silbernen Kugeln“ gespielt hätten. Inwieweit man diesen Schilderungen allerdings Glauben schenken kann, ist fraglich. K. gilt gemeinhin als Aufschneider und Wichtigtuer, den niemand erst nehmen will, kann und sollte.

So stellte sich im Großen und Ganzen die Situation dar, als ich den Auftrag erhielt, mich um den Nachlass Hofolders zu kümmern.